Jahrelang geisterte ein Phantom durch die Medien: Ein gewisser Louis Pinette, ein Schüler des Eiffelturm-Erbauers Gustave Eiffel, so war immer wieder zu lesen, habe die Ostener Schwebefähre konstruiert. Alles Quatsch: Dieser Louis hat – wie auch auf unserer Website wiederholt zu lesen war – nie existiert, er war lediglich die Ausgeburt der Fantasie örtlicher Tourismusförderer.
Wahr ist, dass ein junger jüdischer Ingenieur aus Berlin-Charlottenburg namens Max (nicht Louis) Pinette in Osten als subalterner Bauleiter eingesetzt war; seine Spuren verlieren sich in den Schreckensjahren des Holocaust.
Die Geschichte des „Phantoms der Fähre“ ist ausführlich in einem Beitrag von Jochen Bölsche in dem im Mai erschienenen Buch „Über die Oste“ dokumentiert worden.
Dennoch geistert der falsche Louis noch immer umher, sogar verstärkt im Vorfeld des Jubiläums. So schreibt die Nordsee-Zeitung den Nonsens fort. Wörtlich heißt es: „Die Gemeinde Osten beauftragte niemand geringeren als Louis Pinette, einen Schüler Gustave Eiffels, Erbauer des gleichnamigen Stahlturmes in Paris, mit dem Bau einer Flussquerung“.
Google verweist auf über 300 Internet-Seiten, auf denen der falsche Louis noch lebt.
Der angebliche Konstrukteur und Eiffel-Schüler Louis Pinette hat nie existiert
Von Jochen Bölsche
Wer hat die Ostener Schwebefähre entworfen? Als Konstrukteur nennen im Frühjahr 2009 über hundert Websites – laut Google exakt 140 – einen „Louis Pinette“, der im weltweiten Netz regelmäßig als „französischer Ingenieur“ und als „Schüler des Eiffelturm-Erbauers Gustave Eiffel“ bezeichnet wird. Diese – zweifellos werbewirksame – Version ist purer Nonsens, wie ein Blick in die Archive verrät, die im Vorfeld des 100-jährigen Bestehens verstärkt genutzt worden sind. Den so oft zitierten „Louis Pinette“ hat es nie gegeben.
Dutzende von vergilbten Originalschreiben sind vielmehr von einem „Max Pinette“ unterzeichnet worden, der 1908/09 als „Bauleiter“ die Montage der Schwebefähre überwacht hat. Und dieser Max Pinette war kein Franzose, sondern ein Berliner jüdischer Abstammung mit lediglich französisch klingendem Namen. Für irgendeine Verbindung mit Eiffel lassen sich bislang keinerlei Belege finden.
Sicher ist dagegen, dass der damals existente Pinette, Vorname Max, die Ostener Schwebefähre weder erdacht noch gar konstruiert hat. Eine (namentlich nicht zuzuordnende) Bleistiftskizze, die zusammen mit alten Ratsprotokollen im Jahre 1903 abgeheftet worden ist, deutet darauf hin, dass die Idee, in Osten statt der ursprünglich projektierten Drehbrücke eine der damals populären Schwebefähren zu bauen, im Kreise der lokalen Honoratioren entstanden sein könnte.
Auch eine in den Akten abgelegte erste Blaupause, auf 1903 datiert, stammt nicht von Pinette (den in Osten damals niemand kannte), sondern von dem Neuhäuser Wasserbauinspektor Abraham. Konstruiert worden ist die Fähre – offenbar weitgehend nach Abrahams Vorstellungen – im MAN-Werk Gustavsburg bei Mainz.
Der von der Gemeinde Osten per Beschluß vom 27. April 1908 als Bauleiter angeheuerte Berliner Dipl.-Ing. Max Pinette (Monatsgehalt: 350 Mark plus 100 Mark Bauzulage) hat lediglich die Montage der angelieferten Fertigteile überwacht und einige statische Änderungen durchgesetzt.
Wie ist die Legende von dem „französischen Ingenieur“ und „Eiffel-Schüler“ namens „Louis Pinette“ entstanden? Hat irgendein „He lücht“, wie Gästeführer in Norddeutschland liebevoll bezeichnet werden, die Story schlicht erfunden?
Noch in der 1985 erschienenen „Chronik des Kirchspiels Osten“ des damaligen Ortsheimatpflegers Richard Rüsch wird der Bauleiter korrekt als Berliner Ingenieur Pinette (ohne Vornamen und ohne Eiffel-Verbindung) bezeichnet. Ein Jahr zuvor, am 22. September 1984, war der falsche „Louis“ in Verbindung mit dem Eiffelturm-Erbauer in der Presse aufgetaucht: in einem Artikel der „Harburger Anzeigen und Nachrichten“.
Fortan schien das Phantom allgegenwärtig. In einer Reportage der Deutschen Presseagentur (dpa), die im August 1998 von vielen Zeitungen abgedruckt wurde und die als einzigen Gewährsmann einen Ostener Wirt namentlich nennt, heißt es wörtlich: „1909 konstruierte Louis Pinette, ein Schüler des berühmten Ingenieurs Alexandre Gustave Eiffel, die Schwebefähre in Osten.“ Die griffige und scheinbar schlüssige Lesart wurde in den folgenden zehn Jahren von vielen aufgegriffen und mangels besseren Wissens weiterverbreitet.
In Presse, Funk und Fernsehen sowie im Internet, von der Website des Ostener Hotels Fährkrug bis hin zur Homepage der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, geistert seither der falsche Louis umher. Erste Zweifel kommen auf, als es mißlingt, zur Vorbereitung des hundertjährigen Bestehens der Fähre irgendein Foto des vermeintlichen Eiffel-Schülers aufzutreiben.
Erst eine Sichtung der Originalakten von einst bringt Aufschluß über den Ingenieur aus Berlin, der in Osten vor 100 Jahren offenbar nicht immer gut gelitten war. Nach Unfällen im Zusammenhang mit dem Bau der Schwebefähre, die ihm zum Teil angelastet wurden, blieb Max Pinette der Einweihung des Bauwerks am 1. Oktober 1909 fern. Er entschuldigte sich per Telegramm, er sei „leider letzten Augenblick verhindert“. Es folgte eine lange, heftige Kontroverse mit Bürgermeister Wilhelm August Lohse über die Frage, ob Pinette nach Bauabschluß auch noch zur Rechnungsprüfung verpflichtet sei.
Wer nun war jener Max Pinette aus Berlin-Charlottenburg? Internet-Recherchen nach Männern dieses Namens führen beispielsweise zu einem Max Pinette, Mitglied des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, zu einem weiteren Max Pinette in einem Verzeichnis mit dem Titel „Deutsche Juden als Bibliophilen und Antiquare“ sowie zu einem Markus Max Pinette auf einer „list of names of soldiers with jewish religion from Koenigsberg“– doch weder Ort noch Geburtsjahr passen zu dem Ostener Bauleiter.
Fündig wird erst, wer auf die raren Ausgaben einer „Monatsschrift des Bundes Jüdischer Corporationen“ stößt, die vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Titel „Der Jüdische Student“ (Aufdruck „Streng intern!“) erschienen ist. Die Ausgabe vom 17. März 1908 nennt als Mitglied des Präsidiums einen „Dipl. Ing. Max Pinette“ aus der Grolmannstraße 21 in Berlin-Charlottenburg – das ist die Heimatadresse des späteren Ostener Bauleiters.
In der Ausgabe vom April 1907 findet sich eine weitere Angabe über den „Alten Herrn“ (A. H.) der schlagenden Verbindung: „A. H. Pinette erhielt eine Anstellung als I. Assistent im Statischen Büro der Kgl. Techn. Hochschule.“
Wie ergeht es vor, im und nach dem ersten Weltkrieg dem jungen jüdischen Statiker, nachdem er aus Osten nach Berlin zurückgekehrt ist?
Über sein Wohnviertel Charlottenburg, in dem auch die Redaktion der von Pinette mitherausgegebenen Zeitschrift „Der Jüdische Student“ ihren Sitz hatte, heißt es in einer Berliner Studie: „Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten begannen auch die Repressalien gegen die Juden in Charlottenburg. Hier lebten 27.000 von den etwa 160.000 Berliner Juden. Es war die größte Zahl von allen Berliner Bezirken. Die Boykottaktion gegen jüdische Geschäfte am 1. April 1933 betraf den Kurfürstendamm und Tauentzien besonders hart. Auch die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 hinterließ in Charlottenburg besonders auffällige Spuren. Wiederum Kurfürstendamm und Tauentzien waren von Glasscherben übersät, und es gab Plünderungen in den zerstörten Geschäften. Die große Synagoge in der Fasanenstraße brannte aus.“
Hat der einstige Bauleiter nach der Machtübernahme der Nazis versucht, Berlin in Richtung Schweiz zu verlassen? In den „Archives d’Etat de Genève“ existiert eine Liste der an der Schweizer Grenze während des Zweiten Weltkrieges registrierten Personen. Darin findet sich die Eintragung: „PINETTE Elisabeth, 12. 09.1888, STAATENLOS (DEUTSCHLAND), PINETTE Max, 01. 06.1878 STAATENLOS (DEUTSCHLAND).“
Vieles spricht dafür, dass es sich bei diesem Pinette um den Bauleiter der Schwebefähre und dessen zehn Jahre jüngere Frau handelt. Trifft die Vermutung zu, wäre der Ingenieur 1909 bei der Einweihung der Schwebefähre 31 Jahre alt gewesen.
Die Spuren des Paares, das Zuflucht in der Schweiz sucht, aber offenbar nicht findet, verlieren sich im Nebel der Geschichte. Nur einmal noch lassen sich die Namen Max und Elisabeth Pinette auffinden.
Nachdem es 1999 in den USA zu einem Vergleich zwischen Schweizer Banken und Vertretern von Überlebenden des nationalsozialistischen Völkermordes an den Juden gekommen ist, sucht ein New Yorker Gericht im Zuge eines „Holocaust Victim Assets Programme“ im Umfang von 1,25 Milliarden US-Dollar nach entschädigungsberechtigten ehemaligen Zwangsarbeitern sowie anderen Opfern des Nazi-Regimes.
Zu diesem Zweck wird im Internet eine von der Schweizer Regierung übermittelte Liste mit 6300 Namen veröffentlicht, die „Personen der Flüchtlingsklasse“ umfaßt, „von denen bekannt ist, dass ihnen die Einreise in die Schweiz verweigert wurde oder dass sie von dort ausgewiesen wurden“. Hier finden sich abermals die Namen Max und Elisabeth Pinette.
Im zweiten Jahrhundert der Schwebefähren-Existenz werden Historiker womöglich klären können, wie der einst in Osten beschäftigte Pinette ums Leben gekommen ist. Die – unvollständige – Namensliste der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Jad-Washem umfaßt etliche Pinettes, ein Max ist nicht dabei.
Sicher ist nur: Auf „Louis Pinette“, das Phantom im Dienste des Fremdenverkehrs, muß die Tourismuswerbung verzichten, ebenso wie auf die in den Siebzigern auf Werbekarten verbreitete Flunkerei, das Bauwerk in Osten sei „Europas einzige Schwebe-Fähre“ (in Wahrheit gab es weltweit noch weitere sieben, davon in Europa sechs).
Was bleibt? Zutreffend ist, dass die Ostener Schwebefähre in derselben Stahlfachwerkbauweise errichtet worden ist, der Gustave Eiffel mit seinem Turm zu Weltruhm verholfen hat. Die Bezeichnung der Ostener Fähre als „Eiffelturm des Nordens“ sollte also erlaubt sein – Louis hin, Max her.
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